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Buchtipps
Arqile Bërxholi, Dhimitër Doka, Hartmut Asche (Hrsg.):
Atlasi Gjeografik i Popullsisë së Shqipërisë –
Demographic Atlas of Albania –
Bevölkerungsgeographischer Atlas von Albanien
.
Tirana 2003. XI, 116 S., Schablonenbeilage. ISBN 99927-907-6-8.

Gesellschaftswissenschaft ist immer auch Gesellschaftspolitik. Das gilt ganz besonders in Transitionsländern wie Albanien, in denen sich die Wissenschaft erst langsam vom Korsett politischer Vorgaben befreien musste, in denen aber die Gefahr umso größer war, sich neuen Vorgaben nur allzu bereitwillig zu unterwerfen.

Die Historiker Albaniens – nicht nur die Spezialisten der Zeitgeschichte – versuchen mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen, Fakten neu zu ermitteln und zu interpretieren und sind dabei hin und her gerissen zwischen einer Umwertung früherer Sichtweisen um 180 Grad und der Notwendigkeit, zu vielen Themen mit der Grundlagenforschung wieder bei Null zu beginnen. In der Sprachwissenschaft ist die Debatte um die Vereinheitlichung der albanischen Schriftsprache auf dem gesamtalbanischen Sprachkongress von 1972 noch bei weitem nicht beendet.

Man kann von Mitteleuropa aus kaum nachvollziehen, in welch ein Wespennest ein internationales Team von Geographen und Demographen bei dem Projekt stieß, die Bevölkerungsgeographie Albaniens in einem Atlas darzustellen. Mit Hilfe von Mitteln des Stabilitätspaktes für Südosteuropa wurde dieser Atlas als wissenschaftliches Joint Venture zwischen den Geographischen Instituten der Universitäten Tirana, Prishtina und Potsdam erarbeitet. Seine öffentliche Präsentation im November 2003 löste einen Sturm der Entrüstung aus, in dessen Mittelpunkt die Neubewertung der ethnischen Struktur der Bevölkerung Albaniens stand.

Statt der bei früheren Volkszählungen ermittelten 2 % war nun die Rede von 10,8 % der Bevölkerung, die ethnisch nicht zur albanischen Staatsnation gehörten. Die Forscher haben ihre Daten anhand der standesamtlichen Register, der Unterlagen von Organisationen der religiösen Gemeinschaften und der Minderheiten sowie durch Feldforschung ermittelt. Sie kamen dabei zu dem Ergebnis, dass die griechische Bevölkerung im Süden mit 66.000 Menschen seit 1989 etwa um 10 % angewachsen sei (was bedeuten würde, dass die damalige Zahl zu niedrig war, angesichts der erheblichen Migrationsverluste der griechischen Minderheit) und dass die Makedonier am Prespasee mit 14.500 Menschen deutlich stärker seien als 1989 angegeben; wirklich überraschend aber war die Stärke der zwei größten Minderheiten, die 1989 in den Statistiken gar nicht auftauchten, nämlich 139.000 Aromunen und 109.000 Roma. Dazu kommen wenige Montenegriner im äußersten Norden.

Man muss sich die Brisanz der Minderheitenproblematik in allen Staaten Ost- und Südosteuropas vor Augen halten, um zu ermessen, warum diese vordergründig undramatischen Zahlen eine öffentliche Kontroverse auslösten, die nicht in der Wissenschaftspresse, sondern in Tageszeitungen wie „Shekulli“ geführt wurde. Einerseits wurde der Vorwurf der wissenschaftlich unzureichenden Methodik erhoben, andererseits wurde den Aromunen ebenso wie den Roma die Qualität einer ethnischen Minderheit abgesprochen; es handele sich vielmehr um ethnisch-sprachliche Gemeinschaften, die Bestandteil der albanischen Nation seien, auch wenn sie sich untereinander einer eigenen Sprache bedienten.

Wenn man weiß, mit welcher Geringschätzung, ja Verachtung viele Albaner von den Roma und anderen „Zigeunern“ sprechen, mutet es höchst eigenartig an, dass sie dann, wenn es um die Frage der ethnischen „Reinheit“ geht, nun plötzlich zur albanischen Mutternation hinzuaddiert werden. Die Roma und Ashkali in Kosovo können ein trauriges Lied davon singen, wie übel sie bei den meisten albanischen Kosovaren gelitten sind…! Diese politische Auseinandersetzung hat Jochen Blanken in dem Artikel „Ethnische Minderheiten in Albanien“ in den AH 1/2004 dokumentiert.

Der ausgesprochen gut gedruckte Atlas hat sein politisches Imprimatur durch Grußworte des zuständigen Abteilungsleiters im Deutschen Auswärtigen Amt, Wilfried Grolig und des albanischen Parlamentspräsidenten Servet Pëllumbi. Er ist durchgängig dreisprachig albanisch-englisch-deutsch, damit international uneingeschränkt nutzbar. Jedes Kapitel wird mit Erläuterungen eingeleitet, das auch etliche Daten enthält.

Das erste Kapitel mit Grundlageninformationen umfasst zwei historische Karten, eine detaillierte physische Karte und eine zur Umweltbelastung auf dem Stand von 2000, vergleichende Karten zur Verwaltungseinteilung von 1937, 1960 und 2001 und eine Detailkarte der Gemeindegrenzen.

Im zweiten Kapitel „Bevölkerungsverteilung“ wird die Entwicklung der Bevölkerungsdichte anhand von fünf Karten für die Zeitpunkte 1926, 1945, 1969, 1989 und 2001 sichtbar gemacht; Grundlage ist dabei jeweils die heutige Gemeindeeinteilung, was die für europäische Verhältnisse völlig untypische Bevölkerungsexplosion Albaniens von 28,5 Einwohnern pro km2 (1926) auf 107,4 km2 (2001) deutlich macht. Für 1989 und 2001 ist auch die Ernährungsdichte, also die Einwohnerzahl pro km2 der landwirtschaftlichen Nutzfläche erfasst, die deutlich zeigt, welche hauptsächlich agrarischen Kreise im nördlichen Hochland und im Süden von Bevölkerungsschwund betroffen sind.

Kapitel III widmet sich dem natürlichen Bevölkerungswachstum, also der Entwicklung der Reproduktion und der Sterblichkeit, wobei Albanien sich erst in den letzten Jahren dem europäischen Mainstream angeglichen hat, mit deutlich zurückgehenden Geburtenraten und einem, wenn auch bisher nur minimalen Frauenüberschuss in der Gesamtbevölkerung; dabei ist die Sterblichkeitsrate durch die verbesserte Gesundheitsversorgung bereits seit mehreren Jahrzehnten stark rückläufig. Die Vergleichskarten seit 1932 machen deutlich, dass Anfang der 60er Jahre mit einem Zuwachs von 3 % der Höhepunkt in den frühen 60er Jahren erreicht wurde. Die Geburtenrate war hingegen traditionell extrem hoch: Bereits 1932 wurden auf 1.000 Einwohner 41,7 Kinder lebend geboren; praktisch exakt denselben Wert, 41,6, finden wir in den frühen 60er Jahren, während sie im letzten Jahrzehnt auf 18,2 zurückgegangen ist. Die allgemeine Sterblichkeitsrate, die 1932 noch bei 24,7 pro 1.000 Einwohner lag, ging kontinuierlich auf 5,1 in den späten 90er Jahren zurück. Die Säuglingssterblichkeit (Todesfälle innerhalb des ersten Lebensjahres) ist erst für 1960 mit 86,7 pro 1.000 Geburten dokumentiert; sie ging bis 2001 auf 12,8 zurück. 1960 war sie, wie zu erwarten war, im Norden des Landes besonders hoch, 1990 weist hingegen der südliche Kreis Skrapar den landesweit höchsten Wert auf, mittlerweile der Kreis Librazhd im östlichen Mittelalbanien. Die Abtreibungsstatistiken leiden nach Ansicht der Bearbeiter unter der hohen Dunkelziffer, vor allem für die kommunistische Ära, in der Abtreibungen nur in Ausnahmefällen erlaubt waren; dennoch sind für 1975 fast 150 Abtreibungen pro 1.000 Geburten registriert. Der Höhepunkt der 90er Jahre ist mittlerweile schon wieder überschritten.

Häufigste Todesursache waren im Jahr 2000 überall Herz-Kreislauf-Erkrankungen; auch Krebs spielt natürlich eine wichtige Rolle. Im selben Jahr waren 8,3 % aller Todesfälle auf Unfälle zurückzuführen, wozu natürlich der expandierende Straßenverkehr seit 1990 beigetragen hat.

Von besonderem Interesse ist natürlich die Frage der Binnen- und Außenmigration, über die Professor Dhimitër Doka auf einem Seminar der DAFG im April in Dortmund referiert hat. Unter kommunistischer Herrschaft war die Binnenmigration strenger Reglementierung unterworfen, während Außenmigration faktisch unmöglich war. Die hier dargestellten neu ermittelten Daten zeigen, dass es bereits seit Jahrzehnten eine Binnenwanderung aus dem nördlichen und den südlichen Bergland in die westliche Ebene gibt. Seit 1932 verlor die westliche Ebene erhebliche Bevölkerungsanteile durch Außenmigration, deren bevorzugte Ziele Griechenland und Italien sind, daneben andere westeuropäische Länder wie Deutschland, die Schweiz und Frankreich.

Die Urbanisierung Albaniens fand mit Verzögerung statt. In fünf Karten wird das Verhältnis zwischen städtischer und ländlicher Bevölkerung in den einzelnen Kreisen dargestellt. 1926 lebten nur 15,8 % der Albaner in zum Teil sehr kleinen Städten, 2001 waren es 42,1 %. Die demographische Struktur Tiranas und seiner elf Bezirke wird in eigenen Karten dargestellt.

Durch die traditionell hohe Geburtenrate hat Albanien eine ungewöhnlich junge Bevölkerung. Der Anteil der Menschen im Rentenalter liegt konstant bei etwa 11 %. Ein Überalterungsproblem wie viele andere Staaten Europas (auch Osteuropas) bleibt Albanien bis auf weiteres erspart.

Zumindest offiziell ist Arbeitslosigkeit erst in den 90er Jahren zu einem Problem geworden. Besonders der Staat als Arbeitgeber ist in vielen Branchen völlig ausgefallen. Gerade hier ist das Datenproblem wegen der Schattenwirtschaft besonders groß.

Die Karte zur ethnischen Struktur im Jahr 2001 (Seite 100) ist der Stein des Anstoßes. Er macht einen besonders hohen Minderheitenanteil in den drei südlichen Kreisen, aber auch in Korça aus. In gleicher Weise interessant ist die folgende Karte zur religiösen Zusammensetzung nach den vier traditionellen Konfessionen, den Katholiken, den Orthodoxen, den sunnitischen Muslimen und den Bektashi.

Leider macht sich gerade bei diesen beiden Karten das Defizit des gesamten Atlasses bemerkbar, dass er keine Referenzstatistiken enthält. Für die Kapitel zur Bevölkerungsentwicklung ist dies allenfalls bei den historischen Daten ein Problem. Auch wenn Albanien seit langer Zeit keine jährlichen statistischen Jahrbücher mehr veröffentlicht, sind zumindest die Zehnjahres-Kompilationen, die das Statistische Institut INSTAT herausgebracht hat, eine Möglichkeit zur Verifizierung, auch wenn die Datenerhebung des Teams, das den demographischen Atlas erarbeitet hat, methodisch nicht deckungsgleich mit der von INSTAT ist. Es nützt aber nicht allzu viel, wenn für jeden Kreis ein Tortendiagramm mit den Anteilen der religiösen Gruppen geboten wird, aber nirgendwo eine Umrechnung in Zahlen nachvollziehbar ist.

Ein letztes Kapitel widmet sich der Bildungs- und Sozialstruktur. Für 1970, 1990 und 2001 wird die Verteilung der Schulen, der Schüler und der Hochschüler dargestellt. Der Bildungsexpansion der kommunistischen Zeit folgte in den 90er Jahren ein Verfall der Bildungsangebote, was sich durch den Bürgerkrieg von 1997 noch verschärfte. Die verheerenden PISA-Resultate Albaniens sprechen Bände (s. AH 3/2003). Dasselbe gilt für die Krankenhausversorgung; einer Expansion bis in die 80er Jahre folgte der Niedergang der gesundheitlichen Versorgung in den Wendejahren.

Der „Bevölkerungsgeographische Atlas von Albanien“ ist ein Meilenstein bei der Vernetzung der albanischen Forschung mit der europäischen. Es ist zu hoffen, dass auch in Albanien eine Hinwendung zu einem modernen Minderheitenbegriff nicht mehr als Verrat an der Nation denunziert wird, auch wenn der Vorwurf richtig bleibt, dass EU-Staaten wie Griechenland eine weit schlechtere Bilanz bei diesem Thema aufzuweisen haben. Dringend wünschenswert ist, dass die Herausgeber sich möglichst bald dazu entschließen, das von ihnen erhobene Zahlenmaterial in einem Ergänzungsband zu diesem Atlas zu veröffentlichen. Ebenso ist zu hoffen, dass Albaniens Beteiligung an internationalen Joint Ventures auch im Bereich der Geistes- und der Sozialwissenschaften immer selbstverständlicher wird. Davon würden nicht nur sie, sondern alle teilnehmenden Forscher profitieren.

Dr. Michael Schmidt-Neke, Kiel


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